Mein Leben
Vor 20 Jahren kam in Gelsenkirchen ein Kind zur Welt, das eigentlich gar nicht leben sollte. Dieses Kind war ich. Als ich klein war, war unser Familienleben noch ziemlich harmonisch. Meine Eltern liebten mich (dachte ich) und an materiellen Dingen (diese waren/sind meinen Eltern immer sehr wichtig – Gefühle waren/sind nichts wert) fehlte mir nichts. Außerdem kamen meine Eltern gut miteinander klar. Streit gab es nur selten. Ich war der Mittelpunkt im Leben meiner Eltern, das Kind, das die grad geschlossene Ehe scheinbar perfekt machte.
Mit ca. 9 Jahren begann ich meine Familie genauer zu betrachten. Mir fiel auf, dass mein Vater auffällig viel Alkohol trank und meine Eltern nicht mehr auch nur eine Minute vernünftig miteinander reden konnten. Überhaupt wurde bei uns NIE über irgendetwas geredet. Probleme gab es bei uns nicht, es schien als wären wir die perfekte Bilderbuchfamilie! So haben es zumindest Außenstehende gesehen. Das ich geschlagen wurde wusste niemand. Meine Eltern hielten diese Schläge auf Rücken und Kopf für völlig normal, es war ihre Erziehung. Natürlich habe ich anfangs auch diese Sichtweise angenommen. Später lernte ich dann jedoch, dass diese Schläge keineswegs normal sind. Und auch die Vorwürfe die meine Eltern mir machten, dass ich ja sowieso ein ungewolltes Kind sei, waren mit Sicherheit nicht fair. Doch was sollte ich tun?
Wer glaubt schon einem 9 jährigen Kind?!
Außerdem erfuhr ich vor kurzem, dass meine Mutter zu der Zeit an Krebs litt. Damals wusste ich das nicht und auch heute war es nur Zufall, dass ich es herausfand. Ein ziemlich beschämendes Gefühl von seinen Eltern belogen zu werden. Da soll man dann auch noch Vertrauen haben? Tut mir leid, aber das bekomme ich nicht in meinen Kopf.
Als ich 10 war erfuhr ich, dass ich eine Schwester habe. Jedoch kam es nur heraus, weil meine Schwester meiner Mutter einen Brief schrieb, sie würde uns gerne kennen lernen. Dazu kam es dann auch und heute bin ich darüber sehr glücklich, denn meine Schwester wurde zur wichtigsten Person in meinem Leben. Zwei Jahre später, ich war also 12, lernte ich den leiblichen Vater meiner Mutter kennen. Das waren ein Schock und ein Freudenmoment zugleich. Zum einen hatte ich einen Opa verloren, denn ich erfuhr ja, dass der Stiefvater meiner Mutter gar nicht mein Opa war und zum anderen lernte ich meinen wirklichen Großvater kennen. Auch er wurde zu einem der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Er konnte nachvollziehen, was und wie ich fühlte.
Das alles hat mich sehr mitgenommen und ich bin bis heute nicht darüber hinweg gekommen. Warum ausgerechnet er? Warum immer die Menschen, die ich liebe? Reden konnte ich darüber nie. Mit wem auch? Es hörte ja doch keiner zu.
So kam es auch (denke ich), dass ich begann mich selbst zu verletzen. Das fing alles ganz harmlos an, mit Fingernägelkauen, aggressivem Verhalten und solchen Dingen. Doch dann wurde es immer heftiger. Ich verbrannte mich, schnitt mir Arme und Beine auf, bekam Essstörungen, hatte starke Depressionen und Suizidgedanken, litt an Sozialphobie und Panikattacken. Zum Glück lernte ich Leute kennen, die für mich da waren. Endlich mal in meinem Leben hörte mir jemand zu. Heute kann ich mir ein Leben ohne diese Leute nicht mehr vorstellen. Immer wieder halfen sie mir aus den Depressionen herauszukommen und mich nicht selbst zu verletzen. Leider fiel ich irgendwann so tief, dass meine Freunde es nicht mehr schafften mich da raus zu ziehen.
Die familiäre Situation, der ewige Streit meiner Eltern, das ständige Alleinsein und der Druck den ich mir selbst machte, brachten mich so weit, nicht mehr leben zu wollen. Ich hatte es satt immer der Sündenbock zu sein... die Doofe für alles. Ich ging in den Park... wollte mich abreagieren. Lief abends alleine die Wege entlang, war grad mal 14, setzte mich schließlich auf eine Bank, dachte nach. Nach einigen Stunden, entschloss ich mich dazu es zu tun... die Scherben, die auf dem Boden lagen aufzuheben und damit einmal längs über meinen Unterarm schneiden... genau den blauen Adern nach.... ich setzte an... überlegte... und begann zu schneiden. Plötzlich rief jemand ich solle aufhören... ich erschrak... ließ die Scherbe fallen. Es war meine Freundin, die zufällig dort vorbei kam... sie war auf dem Weg nach Hause, wollte noch ein bisschen spazieren gehen. Ihr verdanke ich mein Leben!
Vor 4 Jahren starb diese Freundin an den Folgen ihrer Selbstverletzung. Sie blutete so stark, dass man ihr nicht mehr helfen konnte. Schon wieder verlor ich einen Menschen, den ich liebte. Das Schlimmste daran war, dass sie gar nicht sterben wollte. Sie bat ganz einfach nur um Hilfe, doch keiner half ihr. Keiner der dazu in der Lage war. Wir, ihre Freunde, liebten sie und waren für sie da, aber dadurch verschwanden ihre Probleme auch nicht. Ihren Eltern war immer egal, was mit ihr passiert und sie waren auch nicht sonderlich traurig, als sie starb. Zumindest zeigten sie es nie.
Ähnlich war es damals bei mir zuhause. Meine Eltern konnten nicht loslassen, engten mich ein. Trotzdem war es ihnen egal, wie es mir geht. Ich hatte es geschafft mich 4 lange, quälende Jahre selbst zu verletzen, ohne das sie etwas bemerkten. Und wäre meiner damaligen Klassenlehrerin nichts aufgefallen, würden sie bis heute nichts davon wissen.
Erschreckend, nicht wahr?
Meine Eltern hatten nur Augen für sich selbst, stritten ständig und merkten nicht, wie sehr sie mir damit schadeten. Ich habe dafür gebetet, dass sie sich trennen, aber ich wurde bis heute nicht erhört.
Doch dieses Thema brauchte ich bei meinen Eltern gar nicht erst anzusprechen. Das hätte nur wieder Streit gegeben. Ich ließ es also bleiben und verletzte mich weiter. Ich wusste, dass dieses Verhalten falsch war, doch ohne Hilfe konnte ich es nicht schaffen. Zu groß war die Sucht inzwischen geworden und anstatt sich zu bessern, wurde mein gesundheitlicher Zustand bloß schlimmer.
Als ich 16 war wechselte ich die Schule, ging von der Realschule auf das Gymnasium. Und das alles nur meinen Eltern zuliebe. Viel lieber wäre ich arbeiten gegangen, ausgezogen und hätte mein eigenes Leben gelebt. Doch meine Eltern wollten das Abitur. Zwar sagten sie immer, dass es meine Entscheidung sei, aber insgeheim wollten sie das Abi und sie hätten ALLES getan, um mich dazu zu bringen. Heute bin ich darüber nicht mehr wirklich böse. Ich habe auf der neuen Schule drei Menschen kennen gelernt, denen ich sehr viel verdanke. Sie haben mir gezeigt, was es heißt zu leben. Und das alles obwohl sie selbst krank waren.
Doch Zuhause war die Streiterei noch größer geworden. Immer war ich es, die die Agressionen meines Vater abbekam. Ich war blöd, ich war schuld, alles war mein Fehler. Wozu also noch leben, dachte ich mir. Ich nahm die Rasierklinge, sah meinen Arm an, die blauen Linien... ich setzte an... das Telefon klingelte. Ich lag die Rasierklinge zur Seite. Am Telefon war mein bester Freund, er fragte mich was los sei, er hätte so ein komisches Gefühl gehabt... :( Ich hab ihm nie gesagt, was ich vor hatte.
Manchmal denke ich, mein Leben hat ein Drehbuch... alles ist vorher bestimmt... hört sich an wie ein Buch, meine Geschichte... aber es ist wahr... leider.
Ich begann damit, viel über mich und mein Leben nachzudenken und beschloss eine eigene Selbsthilfe - Plattform im Internet zu errichten. Ich wollte weitergeben, was ich erfahren habe... Freude, Leid, Schmerz und Glück mit anderen teilen. So enstand mit ganz viel Arbeit und kreativen Ideen der Leuchtturm.
Mit 18 wurde mir wieder alles zu viel. Nach einem halben Jahr Therapie gegen den Willen meiner Eltern hatte ich die Wahl zwischen einem Leben mit Therapie bei meinen Eltern oder einem Leben fern von meinen Eltern und (vorübergehend) ohne Therapie. Da es zuhause für mich inzwischen unerträglich geworden war, entschied ich mich für die zweite Möglichkeit. Ich bewarb mich um eine Stelle als Helferin im Freiwilligen Sozialen Jahr, wurde dort sofort angenommen, verließ die Schule (nach Abschluss der 12. Klasse) und zog nach Köln. Am Anfang war das Leben dort sehr schwer. Klar, ich war alleine in einer fremden Stadt fern von all meinen Freunden. Sie fehlten mir so sehr. Doch es gab ein Mädchen, die mit mir fühlte. Ein Mädchen, welches sich auch für ein Leben als FSJlerin in einer fremden Stadt entschieden hatte. Wir wurden sehr gute Freunde und schlugen uns gemeinsam durch. Dieses Jahr war voll von Angst und Trauer, aber auch voll von Freude, Glück und fantastischen Begegnungen. Die Arbeit im Altenheim fiel uns beiden nicht leicht, aber sie erfüllte uns. Ich lernte viele neue Leute kennen und begann das Leben zu genießen. Seit 8 Monaten war ich nun „clean“, hatte nicht ein einziges Mal
geritzt und dachte, jetzt hätte ich es geschafft.
Doch dann: „Aus der Traum!“ Als der Kontakt zu meinen Eltern wieder enger wurde, kamen auch meine Symptome zurück. Zwar begann ich nicht wieder mit dem Ritzen, aber die Sozialphobie, die Adipositas und vor allem die Depressionen, kamen wieder zum Vorschein. Ich entschied mich also erneut für eine Therapie. Leider stellte ich nach den probatorischen Sitzungen fest, dass ich nicht genug Vertrauen zu meiner Therapeutin aufbauen konnte und daher nicht bereit war mit ihr zu arbeiten.
So brach ich die Therapie frustriert ab.
Ende August 2004 zog ich zurück zu meinen Eltern, da ich im November ein einjährig gelenktes Praktikum in einem Kinderheim begonnen habe. Noch immer stritten meine Eltern regelmäßig und verhielten sich mir gegenüber sehr unfair. Zwar gelang es ihnen nicht mehr mir einzureden, dass ich nutzlos und wertlos bin, aber ihre Streiterein und ihr abweisendes Verhalten mir gegenüber verletzten mich tief und nahmen mir ehrlich gesagt die letzte Hoffnung auf "Familie".
Heilig Abend 2004 kam meine Mutter mit einem Herzinfarkt auf die Intensivstation. Es berührte mich erst nicht großartig... doch nach einigen Tagen mit meinem Vater alleine Zuhause, wurde ich sehr nachdenklch. Ich begann zu beten, dass meine Mutter überlebt! Auf gar keinen Fall wollte ich alleine mit meinem Vater leben... absolut nicht.
Gott sei Dank hat sie überlebt!
Das habe ich momentan auch bitter nötig. Die Rückfälle häufen sich, genau wie die Depressionen und Suizidgedanken. Doch ich hatte das Glück auf der Arbeit 3 fantastische Leute kennenzulernen. Und einer davon hat mich an die Hand genommen und mir gezeigt, dass es so nicht weitergehen kann. Er hat sich schlau gemacht und mir Adressen von Therapeuten besorgt. Nachdem ich mich durch die ganze Stadt telefoniert hatte, fand ich tatsächlich einen Therapeuten, der noch in diesem Jahr einen Termin frei hatte. Nun laufen die probatorischen Sitzungen und ich muss abwarten, ob die Krankenkasse mir erneut eine Therapie genehmigt.
Ein sehr harter und langer Weg den ich bis jetzt gelaufen bin und auch die Zukunft wird mir sicherlich nicht in den Schoß fallen, aber ich weiß, dass es Menschen gibt, die für mich da sind und mich unterstützen.
VIELEN DANK!